Beim ersten Kennenlernen des Ortes am 17. November 2022 haben Michal und ich auch das damals noch vollgestellte Gartenhaus mit den neu entdeckten Sütterlin-Kritzeleien in Augenschein genommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Michal noch an diesem Tag sagte, sie wolle die Türen mit den Skribbles einbeziehen. Das Gartenhaus, so war binnen kurzem klar, sollte leer sein und die historischen Türen beleuchtet. Das Gartenhaus solltezum Sprechen gebracht werden.
Wenige Tage später machte die Künstlerin den Vorschlag, eines der historischen Graffiti als Neonschriftzug in der Synagoge zu wiederholen, was mich schlagartig überzeugte. Aber warum? Was ist so treffend daran, eine alte Klo-Schmiererei zu vergrößern und zu einem Licht-Ereignis zu gestalten – noch dazu so präzise wie möglich, wenn man von der schieren Größe absieht?
Vor wenigen Tagen stieß ich auf einen Begriffszusammenhang, der für mich die Sache auf ungewöhnliche, aber treffende Weise in Bewegung bringt und gleichzeitig dingfest macht: Spuren. Was im letzten Jahr auf den alten Türen im Gartenhaus entdeckt wurde, ist so fesselnd und einzigartig, weil es sich um 100 Jahre alte Spuren handelt. Spuren von Menschen, oder besser: Spuren einer Gemeinde, die kurz danach spurlos vom Erdboden getilgt werden sollte. Mit der präzisesten Sorgfalt, mit der größtmöglichen Akribie, mit dem wahnsinnigsten Fanatismus, mit dem radikalsten Anspruch, dem ausgeklügeltesten Propaganda- und Ideologieapparat und der bestorganisierten technisch-operativen Umsetzung wurde der vergleichweise kleinen Minderheit der Juden die Menschlichkeit abgesprochen, um sie spurlos vernichten zu können.
Die Definitionsmacht zwischen WIR und DIE DA ist rin entscheidender Baustein des Rassismus und, frei nach Umberto Eco, des Faschismus. Mit Realität hat das nichts zu tun. Die Angst vor dem Fremden wird zur Monstrosität vergrößert; um den Fremden oder das Fremde als Verursacher der eigenen Katastrophen mit Hass und Ressentiment aufgeladen, ist jede noch so absurde Begründung willkommen. Dabei waren bei der Volkszählung vom Juni 1933 genau 502 799 Menschen im Deutschen Reich Juden, davon 144 000 in Berlin, 3,8 Prozent der dortigen Einwohner. Der größte Teil der deutschen Juden lebte in Städten. Etwa 65 Millionen Menschen insgesamt lebten im Deutschen Reich, der jüdische Anteil an der Bevölkerung betrug gerade 0,77 Prozent. In Lippstadt lebten 1933 126 Juden, bei einer Einwohnerzahl von ca. 20.000, das sind rund 0,63 Prozent.
WIR und DIE DA. 0,63 Prozent, die bis 1942 vollständig umgebracht oder vertrieben, deren Wohnungen konfisziert, deren Geschäfte arisiert, deren Synagoge geschleift und deren Spuren getilgt wurden. Nur ein paar Wände, durch die der Wind pfiff, und ein paar Bleistiftkritzeleien blieben übrig, Kritzeleien im Gartenhaus, dem steinernen Zeugen, der bei der Zerstörungswut übersehen wurde – ich nehme an, weil das Häuschen dem Mob als wertlos galt. Aber genau hier haben wir sie wiedergefunden, die Spur der Menschen in ihrer Schrift, ihrer Sprache, ja, in ihren Namen, durch die Arbeit von Michal Fuchs nunmehr vergrößert zu einem Erinnerungszeichen, zu einem Menetekel, zu einem Denkmal aus Licht. Diese Spur wurde unbewusst und ohne Intention gelegt: was kann alltäglicher sein als ein Gekritzel auf dem Klo… Um so eindrücklicher, dass und wie wir sie heute hier wiederfinden. Und was sie uns bedeuten kann, welche Vielschichtigkeit von Themen sie aufruft.
Nach Sibylle Krämers Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Band „Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst“ gehört zu den Attributen der „Spur“:
– die Abwesenheit: in der Anwesenheit der Spur zeigt sich die Abwesenheit des- oder derjenigen, die sie verursacht hat;
– die Orientierungsleistung: denjenigen, die die Spur entziffern, geht es um Orientierung für praktisches oder theoretisches Handeln;
– die Störung: auffällig können Spuren nur werden, wenn im gewohnten Terrain das Unerwartete aufscheint;
– die Unmotiviertheit: Spuren werden nicht „gemacht“, sondern unabsichtlich hinterlassen;
– die Beobachter-Abhängigkeit: Spuren sind nicht, sondern werden als solche gelesen; sie werden durch Interpretation hervorgebracht;
– der Zeitenbruch: die Spur zeigt etwas an, das zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel vergangen ist;
– die kommunikative Eindimensionalität: Spuren selbst sind stumm; sie werden durch Wahrnehmung und Deutung zum Sprechen gebracht, sie sprechen gleichsam mit fremder Stimme.
Die Erfahrung, wenn ich Kolleginnen, Kollegen, Freundinnen und Freunden diesen Ort zeige, wiederholt sich: Dieser Ort ist nicht sprachlos, er hat der Zerstörung, der profanen Nutzung, der Entwürdigung, der Ignoranz und dem Vergessen getrotzt. Dieser Ort spricht zu uns durch uns, seine Spurenleser, wenn wir bereit sind, diese zu entdecken, zu interpretieren, zu kontextualisieren. Diese Mauern, dieser Garten, dieser versehrte, verwüstete Zustand können noch immer zu uns sprechen. Wer nicht völlig unempfindlich ist, wird das spüren.
Wer dann noch, wie Michal Fuchs, Künstlerin ist, noch dazu mit einer Herkunft, die untrennbar mit dem verknüpft ist, wofür dieser zerstörte Ort steht, der wird die Sprache des Ortes spüren, seine Stimme hören, seine Ausstrahlung empfinden. Und so ist denn auch etymologisch das Wort „Spuren“ oder „Spur“ mit dem Wort „Spüren“ eng verknüpft, ist das „Spüren“ doch ein Aufspüren, ein Finden, eine Recherche, ein intuitives Erkennen, eine Verknüpfung, das Aufnehmen einer Verbindung. „Spüren“ bedeutet ja eben nicht, wie es sprachlich auch denkbar wäre, das LEGEN einer Spur, sondern das AUFFINDEN derselben. Die Spur birgt, ob bewusst, ob unbewusst, eine Botschaft, die zu entdecken ist. Und mit der Entdeckung, durch die Stimme der Entdeckenden sagt sie „ich“ und „hier“ und „heute“.
Das macht die Größe und den Hallraum von Michal Fuchs’ Neonschrift aus: Im Sichtbarmachen, in der Abstraktion, in der Überführung in eine anderes, ein künstlerisches Medium – das des Lichts –, in der Wiederholung steckt eben die Wieder-Holung, die Herbei-Holung. Holung und Höhlung, denn beim Öffnen der vor wenigen Jahren gebauten Trockenbauwand, die die geschundene Originalwand der Synagoge verbarg, ent-deckten wir an genau der ausgewählten Stelle einen Teil der ursprünglichen Nische, die an der Ostwand der Synagoge den Thoraschrein als Rahmen-Architektur umgab.
So antwortet Michal Fuchs’ Arbeit nicht allein auf die winzige Spur, die als Klo-Kritzelei vor 100 Jahren gelegt wurde. Sie macht auch den ehemaligen Ort des heiligen Schreins wieder sichtbar, und was könnte ein passenderes Medium für diese Sichtbarmachung sein als ein Licht-Bild, eine Licht-Schrift, eine Er-Leuchtung, eine Be-Lichtung. Man wird und man will keinen Trost darin finden – dazu sind die damaligen Ereignisse zu furchtbar. Trost wäre ein fast schäbiges Anliegen. Es geht darum, ein Zeichen zu setzen. Ein neues Bild, das im Dialog mit der Originalschrift im Gartenhaus (das Eine ist ohne das Andere nicht denkbar) entsteht.
Im Zusammenhang mit dem Denken der Aufklärung suggeriert die Lichtmetapher, dass, wo vorher Dunkelheit herrschte, nun alles durch Begriffe und Definitionen erhellt werden kann. Licht ist eine Konstruktion unseres Gehirns zum Erkennen der Umwelt. Die Geschichte der Menschheit ist nicht nur eine Geschichte des Lichts, am Licht manifestiert sich die geistige Auseinandersetzung des Menschen in metaphysischer wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Und weil es ohne Licht kein Leben gibt, ist auch jede Äußerung des Lebendigen allererst vom Licht abhängig. Der Gegensatz ist die Abwesenheit von Licht: das Dunkel. So bringt die Neon- Installation von Michal Fuchs nicht nur Licht in die Sache und die Sache ans Licht. Sie akzentuiert gleichzeitig das, was bei C. G. Jung der „kollektive Schatten“ heißt und sich in der Vernichtung sämtlicher Spuren an diesem Ort manifestierte. Wie auch die Thora-Nische lange im Verborgenen lag.
Matthias Wagner K sagte im vergangenen Jahr in seiner Einführung zu meiner Arbeit „headlight“, ihm erscheine die Kunst, vor allem die Lichtkunst, geeignet, dem Bewusstsein von Schwärze, Dunkelheit im Hellen und Licht im Dunklen neue Perspektiven zu geben. Eine Lichtkunst, die aber nicht auf Versenkung ins ‘innere Licht’, nicht auf Erhebung, sondern auf ein neues Sehen zielt. Eine Lichtkunst, die kontemplativ, aber nicht religiös ist, weil die Andacht in ihr allein das Gewahr-werden des eigenen Sehen-Könnens zum Ziel hat. Eine Lichtkunst, in der Licht als immaterieller Werkstoff Eingang in die künstlerische Praxis findet, um sich mit kulturellen Differenzen, mit politischer, medialer und ökonomischer Vereinnahmung oder mit privater und gesellschaftlicher Erinnerungskultur auseinanderzusetzen.
Michal Fuchs, um aus dieser thematischen Verstrickung mit dem Licht und der Lichtkunst nun herauszutreten, ist keine „Licht-Künstlerin“. Sie ist Künstlerin, und dazu gehört, für die jeweilige Situation, die selbstgestellte Aufgabe, das Thema eine künstlerische Form zu finden, eine Sprache, ein Material.
Die zweite neue Arbeit, die sie heute hier vorstellt, steht in sehr viel engerer Verbindung zu ihren bisherigen Werken.
Seit 1492, seit dem Beginn des europäischen Kolonialismus, überspringen Neophyten in immer größerer Zahl und Geschwindigkeit die Grenzen, die ihnen bis dahin durch Natur und Landschaft, vor allem durch die Meere gesetzt wurden. Neophyten: Pflanzen, die sich in Gebieten ansiedeln, in denen sie bisher nicht heimisch waren.
Dietmar Brandes, Botaniker und bis 2013 Direktor der Universitätsbibliothek Braunschweig: „Was bedrohlich erscheint, ist die MENGE des Zustroms. Diese Annäherung ist menschengemacht. So hatten die Kommandeure englischer Kriegsschiffe bis vor wenigen Jahrzehnten noch die Pflicht, von jeder Auslandsreise Pflanzen mitzubringen.“ 50.000 Pflanzenarten sollen in den letzten Jahrhunderten nach Deutschland gekommen sein, von denen sich die wenigsten ansiedeln, weil sie meist keine geeigneten Bedingungen vorfinden. „Wer da Krawall macht und vor eingewanderten Arten warnt, sollte lieber seine Gesinnung prüfen“, sagt Florian Jansen, der den Lehrstuhl Landschaftsökologie und Standortkunde an der Universität Rostock innehat. „Es gibt in Deutschland keinen einzigen Beweis, dass etwas ausgestorben wäre wegen einer neu auftretenden Art.“
Michal Fuchs’ Arbeit „Von dem Land hinab zu gehen (vs. 3)“ ist die neueste in einer Serie, die sich mit der mexikanischen Dreimasterblume, lat. Tradescantia pallida beschäftigt, einer violetten bodenbedeckenden Pflanze, verwandt mit dem hierzulande vielleicht besser bekannten Zebrakraut. Diese Pflanze trägt im Hebräischen und im Englischen auch den Namen „The Wandering Jew“, der Wandernde Jude. In deutscher Sprache ist dieser Begriff untrennbar verbunden mit der antisemitisch aufgeladenen Erzählung des Menschen, der Jesus auf dem Weg zum Kreuz verspottete und dafür von diesem verflucht wurde, unsterblich durch die Welt zu wandern. Das anonyme deutschsprachige Volksbuch vom Ewigen Juden von 1602 machte aus dieser Figur einen Juden und gab ihm den Namen Ahasveros.
Die Pflanze ist eine Überlebenskünstlerin, kann kaum ausgerottet werden, breitet schnell ein tiefes Wurzelgeflecht. Sie ist im Mittelmeerraum, auch in Israel ein als Zierpflanze beliebter, weit verbreiteter, leicht zu pflegender Neophyt. In Michal Fuchs’ für diese Ausstellung entstandener Arbeit wachsen die aus Eisen gegossenen Dreimasterblumen aus mit Wasser gefüllten Betonbecken. Dort bilden sie im Laufe weniger Tage filigrane Wurzeln aus Rost.
Der Titel „Von dem Land hinab zu gehen“ ist die wörtliche Übersetzung einer herabsetzenden Bezeichnung für Israeli, die ihr Land freiwillig verlassen und als Abtrünnige gelten. Im Hebräischen beschreibt das Wort Yerida Menschen, die Israel verlassen. Das Verlassen des Gelobten Landes Israel bedeutet Abstieg. Aliya, die Einwanderung nach Israel, hingegen ist der »Aufstieg«. Wer kommt, wird erhöht. Wer geht, gleitet ab. Wie bei Neophyten geht es um Fragen des gewählten oder angestammten Ortes, der Freiheit der Bewegung versus dem Beharren auf dem angestammten Land oder der gegen andere behaupteten „Heimat“.
Wie bei allen Arbeiten von Michal Fuchs wird man ein klares politisches Bekenntnis vergeblich suchen. Das In-der-Schwebe-Halten, das Spiel der Bedeutungen, die Mehrdeutigkeit der Zeichen, die poetischen Transformation ist nicht etwa künstlerischer Unentschiedenheit entsprungen. Die Offenheit der Interpretation in verschiedenste Richtungen ist das künstlerische Statement. Es werden Denkräume eröffnet, Entwicklungsmöglichkeiten angedeutet, starre Narrative hinterfragt.
Auch die ältere Arbeit „Von dem Land hinab zu gehen“, die drei Kaktusfeigen mit den Erdquadraten darunter, deutet in diese Richtung. Auch der Feigenkaktus ist eine in Israel neophyte Art, die ursprünglich aus Mittelamerika stammt. Die drei ausgestellten Feigenkakteen wurden von der Künstlerin vor ca. 2 Jahren nach Deutschland gebracht und hier eingetopft. Fehlendes Licht und fehlende Wärme brachten die Feigenkakteen dazu, ungewöhnliche, nach Licht strebende Formen zu entwickeln. Die 3 Kakteen überleben übrigens wochenlang ohne Wasser und werden nach der Ausstellung wieder in ihre Töpfe verbracht, erleiden also hier keinen Schaden.
Lippstadt, 19. Mai 2023 Dirk Raulf
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