Von dem Land hinab zu gehen vs.2 / 2021, Der Wanderer / 2020
Karoline Schmidt, Curator of the exhibition: Tu BiShvat – Fest der Bäume in the Kunstsammlungen Chemnitz Museum Chemnitz, June 2021

Ist ein Mensch mit seiner Heimat verwurzelt, ähnlich wie eine Pflanze mit dem Boden? In unserer vernetzten, globalen und multikulturellen Welt, in der die Möglichkeit besteht beinahe jederzeit überall hinzugehen, erscheinen Fragen nach Herkunft und Verwurzelung nicht allen zeitgemäß.
Die israelische Künstlerin Michal Fuchs setzt sich in ihren Installationen Der Wanderer und Von dem Land hinab zu gehen II unter Einbeziehung dieser Fragen mit wichtigen Themen wie »Zugehörigkeit«, »Herkunft« und »Exil« auseinander. Als Objekt der Auseinandersetzung dient ihr die Mexikanische Dreimasterpflanze, die sowohl im Englischen, als auch im Hebräischen mit Der Wandernde Jude / The Wandering Jew bezeichnet wird. Eine historische Quelle der Arbeiten von Fuchs ist die auf den christlichen Antijudaismus zurückzuführende Legende vom »Ewigen Juden«, die im 17. Jahrhundert entstand, und aus der sich die Namensgebung der Pflanze entwickelt hat. Ein Bildtypus des »Ewigen Juden« ist zunächst auf die religiöse Legende des Schumachers Ahasaveros zurückzuführen, der Christus während der Kreuzprozession einen Trank verweigerte und daraufhin verdammt wurde, ort- und heimatlos ewig zu leben. 1 Die Legende wurde im modernen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts auf die jüdische Diaspora bezogen und mit Vorstellungen der Juden als Kosmopoliten ohne Nation beziehungsweise »Vaterland« weitergeführt. 2 Besonders häufig erfolgte dabei die Darstellung von Juden als staatenlose Fremdlinge.3

Die Dreimasterblume, auch tradescantia pallida genannt, ist eine robuste Pflanze, die sich schnell ausbreitet, starke Wurzeln bildet und unter widrigsten Umständen existieren kann – eine Überlebenskünstlerin der Natur. Michal Fuchs entzieht der Dreimasterblume in ihrer Installation Der Wanderer die Grundlage ihres natürlichen Wachstums und ihrer Verwurzelung – die Erde. In einer weißen Stele, in der sich auf Augenhöhe der Betrachter:innen ein Glasbecken mit Wasser befindet, schweben die Wurzeln schwere- und bodenlos, der sonst aus dem Boden wachsende Teil der Pflanze bleibt verdeckt. In einem Prozess von nur wenigen Wochen beginnen die Wurzeln im Wasser zu wachsen. »Die dominante Präsentation der Wurzeln durch ihre Sichtbarmachung und Hervorhebung wirft Fragen von Ent- und Verwurzelung auf«. 4 Michal Fuchs, die vor elf Jahren nach Deutschland zog, setzt sich in ihrer Arbeit künstlerisch mit der zutiefst menschlichen Frage nach Zugehörigkeit auseinander. Da sich die Bedeutung der Pflanzen und was sie symbolisieren den Betrachter:innen nicht sofort erschließen, entstehen Fragen, woher die Pflanzen kommen und was mit ihnen passieren wird. Werden sie in einem neuen Element überleben? Kann die Allegorie von Entwurzelung auf die Erfahrung von Menschen angewandt werden? Die Künstlerin versinnbildlicht persönliche Fragen zu ihrer Herkunft und Identität, lässt dabei jedoch genug Interpretationsraum, um eigene Assoziationen zu entwickeln und einen Dialog miteinander einzugehen.

Ihre zweite Arbeit Von dem Land hinab zu gehen II nimmt die Gedanken der Arbeit Der Wanderer auf und transformiert sie auf eine neue Ebene. Die nun aus Eisen gegossenen, filigran anmutenden Dreimasterblumen scheinen aus stabilen Betonbecken zu wachsen, wodurch ein Bild der Unbeweglichkeit, eine Momentaufnahme, suggeriert wird. Jedoch an der Stelle, wo sie aus dem erstarrten Material heraustreten, ist Rost entstanden. Der Prozess des Rostens braucht Zeit und wird häufig mit Verfall assoziiert. Lebendiger wird Rost in Verbindung mit äußeren Einflüssen wie zum Beispiel durch Wasser. Der Rost in der Installation wächst mit der Zeit weiter und bildet zarte »Wurzeln«, womit darauf hingedeutet wird, dass die Entwicklung der Pflanzen noch nicht abgeschlossen ist.

Der Titel der Arbeit bezieht sich auf die Auswanderung von Jüdinnen und Juden aus Israel. Vor allem junge Menschen verlassen gegenwärtig das Land, doch wer aus Israel auswandert, wird für manche zum »Abtrünnigen«. Seit über 2000 Jahren leben Jüdinnen und Juden in der Diaspora auf der ganzen Welt. In der Shoah fand ihre Verfolgung und die Vernichtung vieler Leben einen grausamen Höhepunkt. Seitdem werden Begriffe wie »Herkunft« oder »Heimat« von ihnen differenzierter betrachtet. Das reflektiert sich besonders in der Bedeutung der Ausdrücke Yerida und Aliya. 5 Im Hebräischen beschreibt das Wort Yerida Menschen, die Israel verlassen. Das Verlassen des Gelobten Landes Israel bedeutet Abstieg. Aliya, die Einwanderung nach Israel, hingegen ist der »Aufstieg«. Wer kommt, wird erhöht. Wer geht, gleitet ab. Die Installation Von dem Land hinab zu gehen II bezieht sich nicht nur auf die Biografie der Künstlerin, die Israel verließ. Entgegen dem negativ konnotierten Hinabgehen aus dem Heiligen Land versinnbildlicht sie erneut durch die Pflanzen, dass ein vermeintlich festgeschriebenes Gesetz, das kulturell gewachsen und weitergegeben wurde, aufgebrochen werden und eine Entwicklung zugelassen werden kann. Aus erstarrt anmutenden Geschichten können neue entstehen. Wie die Pflanzen sind die Menschen in einem fortwährenden Prozess der Veränderung. Durch das Sichtbarmachen des Transformationsprozesses der Pflanze öffnet die Künstlerin Denk- und Dialogräume zu existenziellen Fragen nach Herkunft oder darüber, was Identität bedeutet.

(1) Rohrbacher/Schmidt 1991, S. 246–248. Arnold 2010, S. 64. (2) Dittmar 1992, S. 184. (3) Harten 2019, S. 2. (4) 165 Michal Fuchs (5) Fuchs 2020, S. 19-21.